Karnismus - Psychologie und Fleischkonsum
Natur,  Psychologie

Karnismus – Psychologie des Fleischkonsums

Der Begriff Karnismus beschreibt ein Glaubenssystem, das den Fleischkonsum in unserer Gesellschaft legitimiert.

Er wurde von der amerikanischen Sozialpsychologin Melanie Joy geprägt und erklärt, warum wir bestimmte Tiere essen, während wir andere für schützenswert halten oder sogar als Familienmitglieder ansehen (Joy, 2022).

Im Folgenden werden die verschiedenen Aspekte vom Karnismus betrachtet, um zu verstehen, welche psychologischen Mechanismen hinter dem Fleischkonsum stehen.

Was ist Karnismus?

Fleischkonsum als selbstverständlich und normal anzusehen, ist laut Joy genauso ein Glaubenssystem, wie Veganismus, welcher die bewusste Entscheidung beinhalten, Tiere nicht zu konsumieren.

Karnismus beschreibt also Einstellungen und Überzeugungen, die den vorherrschenden Fleischkonsum aufrechterhalten. In den meisten Gesellschaften wird dieses Glaubenssystem jedoch nicht als solches erkennt und auch nicht hinterfragt.

Fleischkonsum als Normalität

Einer der stärksten Aspekte des Karnismus ist, dass der Fleischkonsum als normal angesehen wird.

Von klein auf lernen wir, dass es normal ist, Fleisch zu essen. Sich dagegen zu entscheiden, wie z.B. beim Veganismus, wird als eine Abweichung von der Norm bewertet.

Fleisch ist überall präsent – auf den meisten Speisekarten, in den Supermärkten und in kulturellen Traditionen und Essgewohnheiten. Diese Normalität wird selten hinterfragt, wodurch es schwierig ist, Fleischkonsum als bewusste Entscheidung wahrzunehmen.

Die Normalisierung wird oft durch historische und kulturelle Erzählungen gestützt. Aussagen wie „Der Mensch hat schon immer Fleisch gegessen“ oder „Fleisch ist ein wichtiger Teil der Ernährung“ dienen dazu, den Status quo zu rechtfertigen. Diese Aussagen ignorieren die Tatsache, dass sich die menschliche Ernährung im Laufe der Geschichte verändert hat. Es gibt mittlerweile viele wissenschaftliche Studien, die belegen, dass eine pflanzliche Ernährung alle notwendigen Nährstoffe liefern kann (z.B. Orlich et al., 2013; Tong et al., 2019).

Durch die Normalisierung bleibt der Fleischkonsum tief in unserer Gesellschaft verankert. Dieser Mechanismus macht es schwer, den Fleischkonsum als ethisches Problem zu erkennen, da er als kulturell und biologisch fundiert dargestellt wird.

Normal, natürlich und notwendig

Melanie Joy beschreibt drei zentrale Überzeugungen, auf die sich das Glaubenssystem des Karnismus stützt: Fleischkonsum ist normal, natürlich und notwendig.

  • Normal: Fleischkonsum ist in den meisten Gesellschaften die Norm. Diese soziale Norm macht es schwer, den Konsum von Fleisch zu hinterfragen, da das Verhalten der Mehrheit oft als richtig empfunden wird. Vegetarisch oder vegan lebende Menschen werden oft als unnormal und als Außenseiter:innen angesehen, was den sozialen Druck erhöht, Fleisch zu konsumieren.

  • Natürlich: Die Vorstellung, dass der Verzehr von Fleisch natürlich ist, basiert oft auf biologischen Argumenten. Menschen sind Omnivoren und können sowohl pflanzliche als auch tierische Produkte verdauen. Doch die Vorstellung, dass etwas natürlich ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es ethisch richtig oder notwendig ist. Moderne Gesellschaften haben sich weit von den Lebensumständen entfernt, in denen Fleischkonsum überlebensnotwendig war.

  • Notwendig: Viele Menschen glauben, dass Fleisch für eine gesunde Ernährung notwendig ist. Dieser Glaube wird oft von der Fleischindustrie und falschen Ernährungsmythen unterstützt. Dabei belegen zahlreiche Studien, dass eine ausgewogene pflanzliche Ernährung alle notwendigen Nährstoffe liefern kann, ohne die negativen gesundheitlichen Folgen des Fleischkonsums, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.

Diese drei Rechtfertigungen sorgen dafür, dass der Fleischkonsum als unreflektierte Denk- und Handlungsgrundlage aufrechterhalten wird. Indem sie meist unbewusst wirken, machen sie es schwierig, alternative Denkansätze und Ernährungsweisen zu akzeptieren oder überhaupt in Betracht zu ziehen.

Die Rolle der Fleischindustrie

Die Fleischindustrie spielt eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung des Karnismus.

Mit Milliarden an Werbebudgets und Lobbyarbeit fördert sie die Vorstellung, dass Fleischkonsum normal, natürlich und notwendig ist. Dabei verschleiert sie die negativen Auswirkungen auf die Umwelt, die Gesundheit und die Tiere selbst. Die Fleischindustrie investiert in die Förderung eines positiven Images ihrer Produkte und nutzt dafür gezielte Marketingstrategien.

Eine gängige Strategie ist das Framing von Fleischprodukten als gesund, kräftigend und notwendig für eine ausgewogene Ernährung. Dies geschieht oft durch die Betonung von Protein und anderen Nährstoffen, die Fleisch enthält. Diese Darstellung ignoriert jedoch die gesundheitlichen Risiken von übermäßigem Fleischkonsum und die zahlreichen pflanzlichen Alternativen, die ebenso nährstoffreich sind.

Darüber hinaus propagiert die Fleischindustrie das Image von humaner Schlachtung und artgerechter Haltung. Diese Begriffe sollen den Konsument:innen das Gefühl geben, dass Tiere auf ethisch vertretbare Weise gezüchtet und getötet werden. Die Realität der Massentierhaltung sieht jedoch anders aus. Durch diese euphemistische Sprache wird eine moralische Auseinandersetzung mit dem Fleischkonsum gezielt verhindert.

Kognitive Dissonanz und das Fleisch-Paradox

Kognitive Dissonanz tritt bei widersprüchlichen Überzeugungen oder Handlungen auf, die wir nicht miteinander vereinbaren können.

Im Fall des Fleischkonsums sieht das so aus:

Viele Menschen lieben Tiere und betrachten sie als fühlende und intelligente Wesen, konsumieren aber gleichzeitig Fleisch, was zwangsläufig das Töten dieser Tiere voraussetzt.

Diese Widersprüchlichkeit im Denken und Handeln gegenüber Tieren, wird als Fleisch-Paradox bezeichnet. Um diese kognitive Dissonanz zu verringern und die damit einhergehenden unangenehmen Emotionen zu regulieren, greifen viele Menschen auf psychologische Mechanismen zurück.

Einer dieser Mechanismen ist die Entfremdung. Das bedeutet, dass Menschen eine emotionale Distanz zwischen sich und den Tieren schaffen, die sie essen. Tiere werden nicht mehr als fühlende Wesen wahrgenommen, sondern als abstrakte Lebensmittel. Diese Trennung wird durch die Art und Weise verstärkt, wie Fleisch in Supermärkten präsentiert wird: in Form von anonymen Stücken, die keinen direkten Bezug zu dem lebenden Tier haben.

Ein weiterer Mechanismus zur Reduzierung der kognitiven Dissonanz ist die Leugnung. Viele Menschen wissen zwar, dass Tiere leiden, aber sie entscheiden sich bewusst oder unbewusst dafür, sich nicht mit diesem Wissen auseinanderzusetzen. Dieser Verdrängungsprozess hilft, die Dissonanz zu verringern und den Fleischkonsum fortzusetzen, ohne sich schuldig zu fühlen.

Kognitive Verzerrung und emotionale Distanzierung

Ein zentraler Aspekt des Karnismus ist die Art und Weise, wie wir Tiere wahrnehmen.

Psychologische Studien zeigen, dass Menschen dazu neigen, die kognitive und emotionale Intelligenz von Tieren, die sie essen, zu unterschätzen (z.B. Bastian et al., 2011; Piazza et al., 2015). Durch diese kognitive Verzerrung wird der innere Widerspruch zwischen dem Verzehr von Tieren und dem Wissen, dass Tiere fühlen und leiden können, reduziert.

Die kognitive Verzerrung ist Teil von kulturellen Traditionen und variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft. In westlichen Kulturen werden z.B. Schweine und Kühe als essbare Tiere angesehen. In anderen Kulturen, wie Indien, ist die Kuh heilig und darf nicht gegessen werden und in weiteren Teilen Asiens dienen Hunde als Nahrung. Dies zeigt, dass die Einteilung der Tiere in essbar oder nicht essbar, kulturell bedingt ist.

Hinzu kommt, dass wir in karnistischen Gesellschaften meist eine selektive Empathie entwickeln. Das bedeutet, Menschen lernen schon früh, die Empathie für „Nutztiere“ zu verdrängen und distanzieren sich damit emotional von den Tieren, die gegessen werden. Wir vermeiden es, über das Leiden von „Nutztieren“ nachzudenken, während wir gleichzeitig starke emotionale Bindungen zu Haustieren aufbauen.

Hinzu kommt die Art und Weise, wie Menschen über Tiere und Fleisch sprechen – z.B. ist das Steak auf dem Teller keine Kuh mehr. Diese sprachliche Entfremdung trägt auch zur emotionalen Distanzierung bei, indem sie verhindert, dass Menschen das Fleisch auf ihrem Teller mit einem fühlenden Lebewesen in Verbindung bringen.

Entfremdung, Leugnung, kognitive Verzerrungen und emotionale Distanzierung stellen im Karnismus Schutzstrategien der Psyche dar, um unangenehme innere Spannungen und Emotionen abzubauen, die mit dem widersprüchlichen Verhalten gegenüber unterschiedlichen Tieren einhergehen können.

Anthropozentrisches und speziesistisches Weltbild

Im Karnismus werden Tiere zudem oft auf ihre wirtschaftlichen und funktionalen Eigenschaften reduziert, was ebenfalls zur emotionalen Distanzierung beiträgt und eine Objektifizierung der Tiere darstellt.

Diese Objektifizierung stützt sich auf anthropozentrische und speziesistische Vorstellungen, die den Menschen als überlegene Spezies betrachten. Dieses Denken rechtfertigt die systematische Ausbeutung von Tieren und der Natur, indem es eine hierarchische Beziehung zwischen Mensch und Tier annimmt und die Bedürfnisse und Empfindungen von Tieren ignoriert und stattdessen die menschliche Dominanz über sie betont.

Psychologische Studien zeigen, dass karnistische Überzeugungen mit Persönlichkeitsmerkmalen wie Dominanzstreben und Machiavellismus korrelieren. Die Akzeptanz von Ungleichheit, toxischer Männlichkeit, Statusstreben und die Wahrnehmung von Tieren als dem Menschen sehr unähnlich, verstärkt die Wahrscheinlichkeit karnistischer Denkmuster ebenfalls (z.B. Keller & Siegrist, 2015; Loughnan, Bastian & Haslam, 2014). Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fleischkonsum wird durch diese Persönlichkeitsmerkmale und Denkmuster erschwert.

Tiere als fühlende Lebewesen

Zuletzt noch ein ethisches Argument gegen karnistische Einstellungen.

Mittlerweile ist gut dokumentierte, dass auch sogenannte Nutztiere empfindsame, fühlende Wesen sind, die Freude, Angst, Schmerz und komplexe Emotionen wie Trauer und Empathie empfinden.

Schweine verfügen nicht nur über ein ausgeprägtes Sozialverhalten, sondern können auch Emotionen bei Artgenossen erkennen, mitempfinden und darauf reagieren – was emotionale Intelligenz ausdrückt (Moscovice et al., 2023; Reimert et al., 2013).

Auch Hühner empfinden Schmerzen, zeigen Mitgefühl und Fürsorge und verfügen über ein differenziertes Bewusstsein für ihre Umgebung (Edgar et al., 2011)

Ebenso haben Kühe enge soziale Bindungen zueinander und
Trennungen führen zu deutlich messbarem Stressverhalten, was auf ein ausgeprägtes emotionales Innenleben hinweist (Boissy et al., 2007).

Diese wissenschaftlichen Befunde machen deutlich, dass es keine objektiv begründbare Trennlinie zwischen essbaren und nicht essbaren Tieren gibt. Die Aufrechterhaltung karnistischer Normen bedeutet, das Leid fühlender Wesen zu ignorieren, obwohl wir über das Wissen verfügen, um dieses Leid zu erkennen und zu verhindern. Wir sollten anerkennen, dass Tiere empfindsame Subjekte mit eigenem Lebenswert sind.

Fazit

Karnismus ist ein tief verwurzeltes Glaubenssystem, das den Fleischkonsum als normal, natürlich und notwendig erscheinen lässt.

Es stützt sich auf ein anthropozentrisches und speziesistisches Weltbild und wird durch verschiedene psychologische Mechanismen, wie kognitive Verzerrungen, emotionale Distanzierung und Leugnung aufrechterhalten.

Sich mit dem Glaubenssystem des Karnismus auseinanderzusetzen, ist ein erster Schritt zur Veränderung. Indem wir uns die psychologischen Mechanismen und Denkmuster bewusst machen, die den Fleischkonsum steuern, können wir anfangen, informierte und ethisch reflektierte Entscheidungen zu treffen – für uns selbst, die Tiere und den Planeten. 

Karnistisches Denken zu überwinden ist ein psychologischer Prozess, der durch das Reflektieren und Hinterfragen von tief verwurzelten Überzeugungen und das entwickeln neuer Perspektiven gelingen kann. Unterstützung durch andere, Austausch von Informationen, Kontakt zu Tieren und das Kennenlernen der Vorteile pflanzlicher Ernährung, können den Prozess erleichtern. 

Erfahre hier mehr über die heilsame Wirkung von Natur und Tieren. 

Literatur:

Bastian, B., Loughnan, S., Haslam, N., & Radke, H. R. M. (2011). Don’t mind meat? The denial of mind to animals used for human consumption. Personality and Social Psychology Bulletin, 38(2). doi: 10.1177/0146167211424291

Boissy, A., et al. (2007). Assessment of positive emotions in animals to improve their welfare. Physiology & Behavior, 92(3), 375-397. doi: 10.1016/j.physbeh.2007.02.003

Edgar, J. L., Paul, E. S., Nicol, C. J., & Bateson, M. (2011). Avian maternal response to chick distress. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, 278(1721), 3129-3134. doi: 10.1098/rspb.2010.2701

Joy, M. (2022). Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Eine Einführung in den Karnismus. Ventil Verlag

Keller, C., & Siegrist, M. (2015). Does personality influence eating styles and food choices? Direct and indirect effects. Appetite, 84, 128-138. doi: 10.1016/j.appet.2014.10.003

Loughnan, S., Bastian, B., & Haslam, N. (2014). The psychology of eating animals. Current Directions in Psychological Science, 23(2), 104-108. doi: 10.1177/0963721414525781

Moscovice, L. R., Eggert, A., Manteuffel, C., & Rault, J-L. (2023). Spontaneous helping in pigs is mediated by helper’s social attention and distress signals of individuals in need. The Royal Society, 290(2004). doi: 10.1098/rspb.2023.0665

Orlich, M. J. et al. (2013). Vegetarian dietary patterns and mortality in adventist health study 2. JAMA Internal Medicine, 173(13), 1230-1238. doi: 10.1001/jamainternmed.2013.6473

Piazza, J., et al. (2015). Rationalizing meat consumption. The 4Ns. Appetite, 91, 114-128. doi: 10.1016/j.appet.2015.04.011

Reimert, I., Bolhuis, J. E., Kemp, B., & Rodenburg, T. B. (2013). Indicators of positive and negative emotions and emotional contagion in pigs. Physiology & Behavior, 109, 42-50. doi: 10.1016/j.physbeh.2012.11.002

Tong, T. Y. N., et al. (2019). Risks of ischaemic heart disease and stroke in meat eaters, fish eaters, and vegetarians over 18 years of follow-up: results from the prospective EPIC-Oxford study. BMJ, 366:l4897. doi: 10.1136/bmj.l4897